Meinung eines Bikers

Ist das Mountainbike falsch abgebogen?

Maxi Dickerhoff hat sein Leben dem Mountainbike verschrieben. Er hat als Redakteur bei mtb-news.de und auch auf unserer Plattform emtb-test.com etliche Bikes getestet und arbeitet aktuell an seinem eigenen Supertrail-Projekt. Unser letzter Newsletter zum Thema „Danke Fortschritt“ hat Maxi getriggert, seine Sicht der Dinge in einem eigenen Artikel darzustellen. Denn aus seiner persönlichen Perspektive ist das Mountainbike in den letzten Jahren falsch abgebogen. Seine Worte geben Maxis persönliche Meinung wieder und sind für so manchen sicherlich inspirierend.

Mountainbike-Sprung
Maxi Dickerhoff widmet sich der Frage: "Ist das Mountainbike falsch abgebogen?"

Radsport ist voll im Trend. Nie zuvor haben sich so viele Menschen dafür begeistert, in die Pedale zu treten. Wo man hinblickt, sitzen Menschen im Sattel. Kein Wunder, ist das Fahrrad doch das effizienteste Fortbewegungsmittel überhaupt. Und Spaß macht’s obendrein. Reintreten, vorwärtskommen und den Alltagsstress zurücklassen. Noch dazu kommt man mit zwei Rädern fast überall hin. Das ist Freiheit. Oder um es etwas poetischer zu sagen: Fahrradketten sind die einzigen Ketten, die uns Menschen Freiheit schenken. Größtmögliche Freiheit bieten MTBs. Klingt gut. Ist gut. Sollte sich auch gut verkaufen. Tut es aber nicht – zumindest nicht bei allen. Also, wo liegt das Problem?

(e)Mountainbikes sind Freizeitprodukte, die niemand braucht. Ja richtig gelesen: ein (e)MTB ernährt uns nicht, es erledigt nicht unsere Hausarbeit und hilft uns auch nicht bei der Arbeit. Ein (e)MTB braucht man nicht – man will es. Dieses Wollen fußt maßgeblich auf vier Motiven.

  • Motiv 1: Das Bedürfnis nach Freiheit und der Wunsch, Natur zu erleben. Du gehst aus der Haustür, steigst aufs Rad und schon hinter der ersten Kurve spürst du die Freiheit, selbstbestimmt deine Route wählen zu können. Der Stress des Alltags verblasst mit jeder Kurbelumdrehung.
  • Motiv 2: Gesundheit. Radfahren ist gut für Physis und Psyche. Es geht um Selbstwirksamkeit – darum, unseren Körper zu spüren. Und ums Abschalten – fürs innere Wohlbefinden. Radfahren sorgt für mentalen Ausgleich und baut Stress ab.
  • Motiv 3: Spaß haben und Flow erleben. In einem Wort: Dopamin. Du erreichst einen Trail, deine Aufmerksamkeit bündelt sich zum Tunnelblick, und bevor du es bemerkst, bist du voll im Moment. Flow. Selbstvergessen surfst du über den Trail, spürst den Rausch von Dopamin. Manche suchen noch mehr – den Adrenalinkick.
  • Motiv 4: Gemeinschaft erleben. Wir wollen mit Gleichgesinnten „bonden“ und uns als Teil einer Gemeinschaft fühlen. Soziale Zugehörigkeit. Wir treffen uns zum Groupride, plaudern, fachsimpeln und unterstützen uns, gemeinsam weiterzukommen – oder einfach nur gemeinsam schöne Momente zu erleben.
Specialized
Laut Maxi gibt es für Mountainbiker 4 Motive, weshalb diese in den Sattel steigen. Dieses Bild fällt unter das Motto: Dopamin erleben.

Gründe sollten nicht im Außen gesucht werden. Aber wo dann?

Was ich hier aufliste, ist keine Arbeitshypothese. Es ist das Ergebnis zahlreicher, voneinander unabhängiger Marktforschungsstudien. Okay, jeder von uns weiß, warum wir (e)Mountainbiker aufs (e)Mountainbike steigen – auch ohne teure Marktforschungsinstitute. Umso mehr müssen wir uns folgende Fragen gefallen lassen: Wenn unsere Motive doch so offensichtlich sind, warum entwickeln wir, die wir den Markt gestalten, dann am Nutzer vorbei? Oder anders gesagt: Warum steigen mehr und mehr Biker auf Rennrad oder Gravelbike um?

Nic Morales von bikepacking.com hat sich ebenfalls mit dem Thema beschäftigt und stellt die Frage in den Raum: „Has marketing ruined bikes?“. Der Artikel inspiriert zum Nachdenken. Haben wir in den vergangenen Jahren vergessen, worum es eigentlich geht? Morales diagnostiziert der Branche eine marketingbedingte Getriebenheit. Es geht nur noch darum, immer mehr vermeintliche Whitespots mit immer spezielleren Produkten zu besetzen. Der Trugschluss, den Morales der Branche unterstellt, lautet: Wenn es für jeden noch so individuellen Anwendungsfall ein dediziertes Produkt gibt, dann reicht ein Bike nicht mehr aus. Der Kunde müsse also mehrere Bikes kaufen, um seinen Sport zu leben.

Kann es sein, dass die Spezialisierung der Produktportfolios zu einer Komplexität geführt hat, die uns das Gefühl von Freiheit, Einfachheit und Ausgeglichenheit raubt? Beerdigen wir also genau die Aspekte, die uns eigentlich antreiben, aufs Bike zu steigen? Sind Gravel-Bikes und Rennräder die logische Konsequenz, wenn wir „einfach nur Radfahren“ wollen?

Wie immer gibt es kein pauschales Ja oder Nein, das eine so komplexe Frage beantworten würde. Aber Indizien gibt es schon. Um der Antwort näher zu kommen, habe ich die Motive fürs (e)Mountainbiken mit dem abgeglichen, was (e)Mountainbikes in der Realität liefern. Im Marketing-Jargon würde man sagen: der Emotional Benefit muss durch den Functional Benefit verstärkt werden. Tut der das nicht, verliert der Kunde das Vertrauen. Ich wage die Probe aufs Exempel: Sind die Produktversprechen der Branche deckungsgleich mit dem, was die Produkte dem Kunden liefern?

Mountainbike Motivation
Warum steigen wir eigentlich auf ein Mountainbike?

Motiv 1 – das Bedürfnis nach Freiheit und die Sehnsucht nach Naturverbundenheit.

Freiheit bedeutet für Radfahrer Autonomie: selbstbestimmte Route, Zeit, Tempo und Begleitung. Anders als beim Teamsport sind wir an kein Regelwerk, keinen Platz gebunden. Und Freiheit ist eng mit Naturerlebnis verbunden – draußen sein, neue Gegenden erkunden, Ruhe finden.

Doch die Realität sieht oft anders aus. Viele Touren beginnen nicht an der Haustür, sondern mit dem Auto. Steigende Bike-Gewichte machen die Anfahrt zum Trail beschwerlich, restriktive Regeln drängen uns in ausgewiesene „Reservate“. Hinzu kommt die Reichweitenangst beim Akku und die wachsende technische Komplexität. Schon das Einstellen der Federung oder eine defekte Dropper Post überfordert viele.

Besonders störend: die Geräuschkulisse. Motorsurren und Klappern stehen im direkten Widerspruch zum Bedürfnis nach Stille und Natur. Studien bestätigen: Der Hauptgrund für Kaufreue sind technische Defekte – vor allem Motorschäden, die im Schnitt 16 Tage Stillstand bedeuten.

Auch Software trägt zum Frust bei. Displays, Controller und Apps liefern redundante Informationen, statt Klarheit. Shimano betreibt sogar zwei Apps parallel. Das Gegenteil von Intuitivität. Dabei hat uns Apple längst gezeigt, wie Einfachheit funktioniert: ein Interface, das jedes Kind versteht – berühren, wischen, fertig. Warum bekommt die Fahrradbranche das nicht hin?

Sonnenuntergang
Naturverbundenheit und Freiheit sind für viele Freizeit-Biker das Hauptmotiv.

Motiv Nr. 2 – Abschalten für's innere Wohlbefinden

Die Schönheit des Radfahrens liegt in seiner Einfachheit: Aufsteigen, reintreten, vorwärtskommen. So lässt sich der Kopf leeren. Wer intensivere Reize braucht, sucht sie im Gelände – dort, wo volle Konzentration gefragt ist und kein Raum für Alltag bleibt. Stichwort Flow: Der eine findet ihn auf dem Schotterweg, der andere erst auf der Downhill-Strecke.

Doch oft wird der Weg dorthin verstellt – durch Kommunikation. Die (e)Mountainbike-Bubble ist laut. Influencer übertönen sich mit Parolen, reißerischen Schlagzeilen und Verboten wie „10 Dinge, die du mit deinem eBike niemals tun solltest“. Solche Botschaften schaffen keine Leichtigkeit, sondern Druck.

Auch die Technik trägt dazu bei. Die Vielzahl an Einstellungen und Pflegetipps vermittelt den Eindruck: Ohne tiefes Fachwissen keine Freude am Bike. Nerds mögen sich daran austoben – die Mehrheit fühlt sich überfordert. Dabei liegt Erfolg, wie beim iPhone, gerade in intuitiver Bedienung.

Menschen wollen biken. Raus, weg vom Bildschirm. Doch ausgerechnet die Kommunikation der Branche hält sie dort fest. Ein Widerspruch – und eine Gefahr.

Zugverlegung Steuersatz
Durch den Steuersatz verlegte Züge sind für Maxi ein Beispiel moderner Spaßverderber.
Fox Grip 2
Die komplexen Fahrwerkseinstellungs-Möglichkeiten überfordern den Großteil der Nutzer.

Motiv Nr. 3: Die Dopamin-Fraktion.

Die einen suchen einen freien Kopf durch freies Fahren, die anderen schalten den Alltag ab, indem sie hemmungslos dem Fahrspaß frönen. Am Ende geht’s um Dopamin – jenen Neurotransmitter, der unser Belohnungssystem anfeuert.

Auch diese Fraktion hat DJI mit dem Avinox-Motor perfekt bedient: Schiere Leistung macht schlicht Spaß. Wie beim Motorrad gilt auch hier: Wer Fun will, wählt das „Mehr“.

Der Haken: Was heute Kick liefert, stumpft morgen ab. Wer Leistung als Hauptreiz versteht, fordert ständig neue Superlative – stärkere Motoren, mehr Drehmoment, größere Akkus. Doch diese Spirale macht das Produkt austauschbar. Spaß allein bindet nicht dauerhaft.

Manual Mountainbike
"Was heute liefert, stumpft morgen ab."

Motiv Nr. 4: Soziale Zugehörigkeit.

In einer Gesellschaft, in der klassische Sinnstifter wie Kirche oder Familie an Bedeutung verlieren, suchen Menschen neue Formen von Zugehörigkeit. Freizeitaktivitäten und Lebensstile werden zu Ersatzgemeinschaften – Marken wie Patagonia spielen diese Karte meisterhaft.

Doch im Mountainbiken zerfasern viele dieser Gemeinschaften. Früher gab es die Trail-Biker. Heute spaltet sich die Szene in eMTB und Muskel-MTB. Unter den „Muskel-Bikern“ wiederum suchen die einen Genuss auf langen Touren, den anderen ist das mit ihrem schweren Enduro-Boliden zu mühsam. Und bei den E-Bikern trennt sich die Fraktion der Light-Assist-Fahrer von der Full-Power-Fraktion – wer nicht die Beine eines Peter Sagan hat, bleibt zurück.

Das Ergebnis: Es gibt nicht mehr den Mountainbiker, sondern unzählige Subgruppen, die kaum noch zusammenfinden. Gemeinschaft wird brüchig – und was mühsam ist, verliert an Attraktivität. Einfachheit zieht, Fragmentierung schreckt ab.

Früher war es die eine Gruppe "Biker", heute sind Mitglieder der damaligen Gruppe verschieden wie Tag und Nacht. Das gemeinsame Erlebnis wird immer schwerer.
Zukunft des Mountainbikens
Maxi Dickerhoff ist sich nicht zu schade, ein Plädoyer an die Industrie zu richten.

Maxi Dickerhoffs Plädoyer

Sexy sind Rennrad und Gravel-Bike – weil sie unkompliziert sind. Rauf aufs Rad, treten, rollen. Das Schwierigste ist vielleicht ein Platten – und selbst der wird im Rudel gelöst, denn Group Rides gibt es wie Kiesel auf dem Schotterweg.

Und wir? Als (e)MTB-Branche laufen wir Gefahr, uns in Technik und Optionen zu verheddern. Je komplexer die Bikes, desto weiter entfernen sie sich vom eigentlichen Versprechen: Freiheit, Natur, Flow, Gemeinschaft.

Wenn wir uns also nicht die Butter vom Brot nehmen lassen wollen, brauchen wir ein klares Leitmotiv: Weniger ist mehr. Intuitive und leichte Produkte für einfache Freude. Ein schlankes Portfolio statt Produktdschungel. Und Kommunikation, die inspiriert, statt belehrt.

Denn letztlich wollen wir Biker nicht Menüs und Tutorials durchscrollen, sondern neue Trails erkunden.

Über den Autor

Maxi Dickerhoff

...liebt es, mit der Hangabtriebskraft zu spielen und bewegt Mountainbikes bergab meist in Schräglage. Sein Fahrstil verlangt den Bikes alles ab, seine Liebe zum Detail macht seine Tests zu einer wahren Hilfe für alle Biker.

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