Racebike Systemvergleich
Ende eines puritischen Konzepts?
Leichte Federgabeln mit 120 mm Federweg und Worldcup-Racer, die Teleskopstützen fahren, werfen eine große Frage in den Raum: Sind Racebikes mit 100 mm Federweg noch zeitgemäß? Wir haben nicht nur verschiedene Bikes gefahren, sondern sogar ein Bike umgebaut, um den Unterschied der Konzepte im Detail zu ermitteln.
Fortschritt vernichtet. Bestes Beispiel: Es gibt keine hochwertigen 26-Zoll-Bikes mehr. Die Schilder mit der Aufschrift „29ers suck!“, welche jahrelang am Streckenrand von Downhill Worldcups zu sehen waren, haben ihre Mission versemmelt. Der alte Laufradstandard ist in der Versenkung verschwunden. Und jeder Hardcore-Biker, der seinem Lifestyle in den 00er-Jahren mit dem Tattoo einer 3-fach-Kurbel Ausdruck verliehen hat, muss jetzt seinen Kindern erklären, was diese vielen Kettenblätter auf Papas Wade für eine Bedeutung haben.
Die großen Fortschrittswellen der MTB-Branche sind zweifelsohne durch und dennoch könnte die Kombination aus Marketing und Ingenieurskunst demnächst sein nächstes Opfer in die Knie zwingen. Liebe 100 Millimeter Racebikes, nehmt euch in Acht. Der Feind lauert, und er hat einen gnadenlosen Willen zur Veränderung.
Warum sollten 100 Millimeter Federweg plötzlich nicht mehr reichen?
Bei der Masse der Marketingkampagnen für neue Produkte und Trends ist es völlig klar, dass viele Biker mittlerweile skeptisch sind, wenn ein neuer Trend um die Ecke kommt. Warum sollten 100 Millimeter Federweg an der Gabel plötzlich nicht mehr reichen? Schließlich werden immer noch Worldcups auf klassischen 100-Millimeter-Racebikes gewonnen. Auch die Alpen lassen sich nach wie vor mit einem puristischen 100-Millimeter-Bike überwinden. Und dennoch stehen die Zeichen auf Veränderung.
Schließlich gewann Nino Schurter die WM 2022 und den Gesamtweltcup 2023 auf einem Bike mit 120 Millimeter Federweg. Auch das Cape Epic 2022 wurde mit 120 Millimetern Knautschzone unter dem Hintern gewonnen. Abseits des Rennsports streichen mehr und mehr Hersteller ihre 100 Millimeter Bikes sukzessive aus den Katalogen. Mondraker, Scott und Orbea bieten kein klassisches Racefully mehr an. Rose haucht sogar seinem neuesten Racehardtail 120 Millimeter Federweg ein und liefert das PDQ ausschließlich mit Teleskopstütze aus.
Die Gründe für die Entwicklung sind nicht offensichtlich, aber natürlich vorhanden
- Grund Nummer 1: Der Mensch gibt sich niemals mit dem aktuellen Stand der Technik zufrieden.
- Grund Nummer 2: 120er Gabeln wie die RockShox SID sind in den letzten Jahren so leicht geworden, dass man sich fragen muss, warum man auf den zusätzlichen Federweg verzichten sollte.
- Grund Nummer 3: Der Mountainbikesport entwickelt sich weiter. Die wenigsten Biker geben sich mit einer Fahrt über den Schotterweg zufrieden. Die meisten wollen mehr Trails. Die meisten wollen anspruchsvollere Trails.
Vorboten aus der Testflotte
Schon seit wir unsere Arbeit bei bike-test.com aufgenommen haben, betonen wir immer wieder, dass 100-Millimeter-Racebikes mit starrer Stütze einen sehr schmalen Einsatzbereich haben. Bikes wie das Scott Scale RC, das Rockrider Race 740 oder das Cervélo ZFS 5 fahren innerhalb ihrer Grenzen hervorragend bergab. Das Rose PDQ zeigte bei seiner Präsentation diesen Sommer jedoch eindeutig, wie eng die Grenzen des klassischen CC-Konzepts sind. Das Canyon Lux Trail besiegelte bei unserem letzten Test dieses Gefühl.
Denn mit 20 Millimeter mehr Federweg und einer versenkbaren Sattelstütze erschließt sowohl das PDQ als auch das Lux Trail weniger versierten Fahrern Zugang zu ernst zu nehmenden Singletrails. Als wir zuletzt das Merida Big.Nine – ebenfalls mit klassischem CC-Konzept – getestet haben, wollten wir es deshalb genauer wissen. Wo liegen denn eigentlich die Nachteile, wenn man sich auf mehr Federweg und eine Teleskopstütze einlässt?
Ein exemplarisches Umbau, um Faktenklarheit zu schaffen
Wir haben deshalb das Merida Big.Nine 10 K kurzerhand umgebaut. Warum dieses Bike? Das Big.Nine begeisterte uns aufgrund seines Gewichts von 9,4 Kilo, zeigte im Test aber auch eindeutig, dass es im Gelände rasch ans Limit kommt. Das frisch vorgestellte Bike von Merida gibt es zudem in anderen Ländern bereits in einer Trailversion mit 120 Millimeter Federweg. Man könnte also sagen: Der perfekte Kandidat, um die konzeptionellen Unterschiede auf der Waage und auf dem Trail deutlich zu machen.
Dazu musste die ab Werk verbaute 100 Millimeter Gabel einer 120er-Version weichen. Die Carbon-Sattelstütze wurde gegen eine Rock Shox Reverb AXS getauscht. Wichtig war uns dabei, dass wir bei dem Konzeptvergleich auf vergleichbarer Basis bleiben. Deshalb haben wir die Rock Shox SID SL Ultimate gegen eine SID Ultimate getauscht. Die Gabel ohne den Zusatz „SL“ hat 20 Millimeter mehr Federweg, werkelt jedoch auf dem gleichen Qualitätsniveau.
Tausche: 20 Millimeter Federweg gegen 158 Gramm Mehrgewicht
Die erste erstaunliche Erkenntnis: Die Gabel mit 120 Millimeter Federweg wiegt nur 158 Gramm mehr. Neben den zusätzlichen 20 Millimetern Federweg bekommt man dafür auch noch deutlich dickere Standrohre. Die 100er-Gabel setzt nämlich auf 32er-Rohre, während die 120er-Gabel von Rock Shox bereits 35 mm dicke Standrohre hat. Vor allem beim Anbremsen oder in Anliegerkurven verwindet sich die 120er-Version weniger. Neben der höheren Lenkpräzision kommt das auch der generellen Funktion zugute. Denn weniger Verwindung bedeutet auch weniger Reibung beim Einfedern.
Der Tausch der Carbon-Sattelstütze gegen die Rock Shox Reverb AXS klappt dank kabelloser Funktion kinderleicht. Teleskopstützen, die nicht elektronisch sondern mit Bowdenzug funktionieren, erfordern einen Rahmen, der für die Zugverlegung vorbereitet ist, und etwas mehr handwerkliches Geschick. Die Reverb AXS bekommt man ohne diese beiden Voraussetzungen an jedes Bike. Der Umbau schlägt mit knapp 500 Gramm Mehrgewicht deutlicher zu Buche als der Tausch der Gabel.
Gewichtsunterschiede nach den Umbauten
- Gabel: +158 Gramm (von 1349 auf 1507 Gramm)
- Sattelstütze: 486 Gramm (von 236 Gramm auf 722 Gramm)
- Komplettbike: 644 Gramm (von 9,4 auf 10,04 Kilo)
Was bedeutet das Mehrgewicht für Sekundenjäger?
Ein Mehrgewicht von 644 Gramm ist in Anbetracht des Umbaus verkraftbar, hat aber dennoch seine Auswirkung. Gerade im Cross Country oder Marathon Bereich geht es vielen Bikern um die berühmten KOM-Titel bergauf. Wir haben deshalb ein realistisches Gedankenexperiment durch einen Leistungsrechner gejagt. Was passiert rein rechnerisch, wenn man das Mehrgewicht von 644 Gramm über den berühmten Tremalzo-Pass am Gardasee treten muss? Von Riva del Garda aus bis zum legendären Tunnel gilt es, 39 Kilometer und 1828 Höhenmeter zu überwinden, bis man den legendären Tunnel auf der Passhöhe durchqueren kann.
Tritt man mit einer durchschnittlichen Leistung von 200 Watt in die Pedale, braucht man bei einem Körpergewicht von 80 Kilo mit einem 9,4 Kilo leichten Bike 2:37:11 Stunden bis zur Passhöhe. Lässt man alle Faktoren gleich und ändert bei der Berechnung nur das Gewicht des Fahrrads auf 10,1 Kilo, spuckt der Rechner eine Fahrzeit von 2:38:13 Stunden aus. Man könnte die Sache auch andersherum rechnen. Um mit beiden Aufbauten, den Tunnel in der gleichen Zeit zu erreichen, muss man mit dem schwereren Bike über die komplette Dauer ein Watt mehr (also 0,5 %) leisten.
Rechenbeispiel für Nachteil durch Mehrgewicht
100 Millimeter Racebike-Aufbau | 120 Millimeter Tuning-Aufbau | |
Gewicht Fahrer | 80 kg | |
Höhenmeter | 1828 hm | |
Kilometer | 39 km | |
Leistung | 200 Watt | |
Gewicht Bike | 9,4 kg | 10,1 kg (+700 Gramm) |
Fahrzeit | 2:37:11 h | 2:38:13 h (+1:02 min) |
Unterschied auf dem Trail
Die zusätzlich benötigten 0,5 % Leistung auf dem Trail wirken verkraftbar, aber die logische Gegenfrage lautet natürlich: Was bekommt man dafür? Wir haben das Merida Big.Nine sowohl im klassischen XC Aufbau, als auch in der 120 Millimeter Version über ein und dieselbe Testrunde gescheucht. Im direkten Wechsel zwischen den beiden Testaufbauten wird sofort klar, dass sich nicht nur der Federweg, sondern auch die Geometrie ändert.
Folgende Geometrieveränderungen bringt der Umbau von einer 100er auf eine 120er Gabel mit sich (bei Größe M)
- Lenkwinkel: wird 1,1 Grad flacher
- Sitzwinkel: wird 1,1 Grad flacher
- Reach: wird 12 mm kürzer
- Stack: wird 8 mm höher
- Oberrohr: wird 3 mm kürzer
- Radstand: wird 9 mm länger
Nach dem Umbau wird die Sitzposition des Bikes deutlich aufrechter. Vor allem der sich verkürzende Reach ist sowohl im Sitzen als auch im Stehen auf dem Bike mit der 120er-Gabel deutlich zu spüren. Das Bike bleibt auch nach dem Umbau sportlich, allerdings in einer nicht ganz so deutlichen Ausprägung. Tourenfahrern dürfte das sogar entgegenkommen. Stellt sich im Eins-zu-eins-Vergleich der erhoffte Aha-Effekt in der Abfahrt ein?
Der Joker auf dem Trail: die Teleskopstütze
Eine besonders steile Schlüsselstelle macht bereits am Einstieg des ersten Trails klar, dass der Unterschied deutlich ausfällt. Zwar hat oben an der Steilstufe der zusätzliche Federweg noch keinen spürbaren Effekt, dafür tritt die verbaute Teleskopstütze bereits ins Rampenlicht. Denn während einem in der letzten Testrunde die starre Stütze noch in eine Haltung gezwungen hat, bei der das Gesäß deutlich hinter dem Sattel und der Bauch nahezu auf dem Sattel war, ist jetzt eine zentrale Position auf dem Bike möglich. Aus dieser zentralen Position heraus lassen sich trotz steilem Gelände auch noch Fahrmanöver wie ein Bunny-Hop oder eine Richtungsänderung einleiten. Das war in der vorherigen Zwangshaltung hinter dem Sattel nicht möglich.
Mehr Federweg ist spürbar, aber kein Game changer
Während die Teleskopstütze in jeder Abfahrt ihren Trumpf der Bewegungsfreiheit ausspielt, agiert der zusätzliche Federweg an der Gabel eher dezent. Er kommt nur dann spürbar zum Vorschein, wenn man in eine extreme Situation gerät oder bewusst hineinsteuert. In Kompressionen oder bei Landungen nach Sprüngen hat die 120er Gabel deutlich mehr Reserven. Fährt man gemütlich über leichte Trails, arbeitet auch die 100er Rock Shox Sid SL absolut sensibel und gibt wenig Anlass zu Kritik. Erst bei gröberen Strecken oder schärferem Bremsverhalten wird auch klar, dass sich die 35 Millimeter Standrohre deutlich weniger verwinden als die schmaleren 32er Standrohre der 100er Gabel.
Teleskopstütze bringt mehr als Fully
Wir haben sogar den direkten Vergleich mit einem 120er Hardtail mit Teleskopstütze und einem Racefully gewagt, um zu sehen, welches Konzept vielversprechender ist. Auch wenn das Fully per se eine abfahrtslastigere Ausrichtung vermuten lässt, sieht die Wahrheit auf dem Trail anders aus. Die 100 mm im Heck des Cervelo Aspero 5 sorgen zwar für stetigen Grip und mehr Komfort als beim Hardtail.
Wenn es jedoch im Gelände zur Sache geht oder der Trailverlauf steiler wird, ist man mit einer Teleskopstütze im Hardtail besser beraten als mit einem vollgefederten Hinterbau. Klar, das Fully schont auf der Langstrecke den kompletten Oberkörper, aber mit einer hohen Stütze hilft es einem eben nicht, wenn man über einen Baumstamm hüpfen will. Auch spannend: Sowohl das Merida Big.Nine als auch das Rose PDQ wogen im 120er-Aufbau mit Teleskopstütze ähnlich viel wie das klassische 100 Millimeter Racefully.
Fazit zum Thema mehr Federweg für Racebikes
Für ein Mehrgewicht von ca. 700 Gramm sind eine Teleskopstütze und eine 120er Gabel tatsächlich ein deutlich spürbares Upgrade für Racebikes. Mehr Bewegungsfreiheit, bessere Lenkpräzision und mehr Grip im Grenzbereich sind die Argumente, welche moderne Hardtails wie das Rose PDQ in den Ring werfen. Athleten, die mit genialer Fahrtechnik gesegnet sind und täglich auf dem Bike sitzen, können das womöglich mit Skills kompensieren. Damit behält das 100 Millimeter Racebike seine Berechtigung für einen kleinen Kundenkreis. Für den Rest der Welt ist die moderne Auslegung von so einem Racebike ein echter Segen, mit deutlich mehr Fahrspaß als die klassischen Versionen. Hardtails lassen sich mit so einer Ausrichtung sogar abfahrtslastiger als klassische Racefullys konzipieren.
Ludwig Döhl – ride better bikes